Deaf Holokaust
von Mark Zaurov
Deaf Holokaust, deutsche taube Juden und taube Nationalsozialisten
Unterrichtsmaterial
In der Keynote des 6. Deaf History International Kongress in der Humboldt Universität Berlin (2006) führte Mark Zaurov den Begriff Deaf Holokaust ein, um die Erfahrung tauber Juden während der nationalsozialistischen Ära von angrenzenden Themen abzusetzen und sie so als eigenständigen und nicht zu ignorierenden Forschungsbereich innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaften und der Holokaustforschung zu etablieren. (1)
Allzu oft werden alle Gewaltakte des Dritten Reichs zum Holokaust gezählt. Obwohl die Zwangssterilisierung in der Tat eine unfassbar unmenschliche Grausamkeit war, gehört sie nicht zum Holokaust. Diejenigen, die die Sterilisation am eigenen Körper erfahren mussten, jedoch niemals die Todeslager zu Gesicht bekamen, waren also, streng genommen, keine Holokaust-Überlebenden. Auch haben taube Zwangssterilisierte den Deaf Holokaust nicht erfahren. Ein plakativer Unterschied zwischen Zwangssterilisierung und Deaf Holokaust ist, dass es taube Personen gab, die sich freiwillig sterilisieren ließen, während es keine tauben Juden gab, die sich freiwillig für den Tod im KZ meldeten.
Taube Juden wurden aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit im Holokaust verfolgt und deportiert; ihre Taubheit lieferte in der Selektion einen den Ausschlag gebenden Grund für ihre unmittelbare Ermordung im Lager, während hörende Inhaftierte eine vergleichsweise höhere Überlebenschance hatten. Die Benutzung der Gebärdensprache oder der Hinweis auf Taubheit reichte aus, um aufzufallen und seinen Tod zu riskieren. Diejenigen tauben Zeitzeugen, von denen wir das wissen, verdanken ihr Leben dem Umstand, dass sie ihre Taubheit völlig verschleiern konnten (so überlebten manche durch ihre Begleiter, die für sie dolmetschten und insistierten, dass sie nicht sprächen oder gebärdeten). Dem liegt die Frage der "Arbeitsfähigkeit" zugrunde. (2)
Im KZ reichte es, eine falsche Reaktion auf die Fragen und Befehle der Aufseher zu zeigen, geschweige denn zu gebärden, um auf der Stelle ermordet zu werden. So musste sich eine taube jüdische Überlebende im KZ aufgrund von „Ungehorsam“ auspeitschen lassen, da sie die Befehle des Lageraufsehers nicht hören konnte. Um zu überleben unterließ sie es, sich als taube Person kenntlich zu machen. (3) Insbesondere während der Selektion war es entscheidend, ob man als „arbeitsunfähig“ wahrgenommen wurde und somit in die Gaskammern geschickt wurde. Auch wenn man also jung, gesund und ebenso gut körperlich gebaut war, wie die als „arbeitsfähig“ geltenden hörenden Insassen, war die Taubheit das entscheidende Kriterium für das Todesurteil. Dies ist die Grundlage für die Unterscheidung des Deaf Holokaust vom Holokaust. Der Begriff Deaf Holokaust eröffnet eine neue Perspektive, ein neues Feld für Geschichtswissenschaftler auch ohne betreffende Spezialisierung. (4)
Der verstorbene promovierte Historiker Günther List betonte, dass „the specific minority history of the deaf also has to be integrated into the setting of ‚general history‘ below the level of the Holocaust“. (5) Obwohl Deaf History eine globale Disziplin ist, ist sie klein und marginal verglichen zum Kanon nationaler Historiografen; kaum ein Historiker der Mehrheitsgeschichtsschreibung kennt sich damit aus bzw. erkennt deren Relevanz. Doch auch wenn diese junge Disziplin wahrgenommen wird, ist der Blick von außen immer noch geleitet von allgemein vorherrschenden und entwertenden Vorurteilen über taube Menschen. Eines dieser klassischen Vorurteile setzt taube Menschen mit geistig behinderten Menschen gleich. Daher wird sehr oft angenommen, dass taube Juden und Nichtjuden in „Aktion T4“ umkamen. Daher bedarf es der Einbeziehung dieses Begriffs in den Geschichtskanon und Repräsentation in öffentlichen Institutionen und Museen wie die UN-BRK Art. 30, Abs. 4 („Förderung der Gehörlosenkultur“ es gebietet. Weiteres ist im Artikel von Zaurov (2019) enthalten. (6)
Deaf Holokaust
Unterschied Deaf Holokaust und Zwangssterilisation sowie Aktion T4
Interviews über Deaf Holokaust, Zwangssterilisation und Gl. Hitlerjugend
Gebärdensprache: Holokaust
(1) Mark Zaurov, „Deaf Holokaust“. In Mark Zaurov und Klaus-B. Günther (Hg.): Overcoming the Past, Determining its Consequences and Finding Solutions for the Present: Proceedings of the 6th Deaf History International Conference July 31 – August 04, 2006 at the Humboldt University, Berlin. Signum Verlag, 2009, S. 173–197.
(2) Mark Zaurov, „Die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen als Beispiel von Volksgemeinschaftsbildung im Nationalsozialismus. Und heute?“, 4. Intern. Konferenz zur Holocaustforschung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), in Kooperation mit der Universität Flensburg und der Humboldt-Universität zu Berlin „Volksgemeinschaft Ausgrenzungsgemeinschaft, „Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933“, dbb Forum Berlin, 27. – 29. Januar 2013, https://www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/154224/ein-recht-auf-die- eigene-geschichte.
(3) Mark Zaurov, „‚Deaf Holocaust‘: Deaf Jews and Their ‚True‘ Communication in Nazi Concentration Camps“, in Interpreting in Nazi Concentration Camps, Michaela Wolf (Hg.) Bloomsbury Press, 2016, S. 135–145.
(4) Siehe Rezension von Leon Stein, „Overcoming The Past, Determining Its Consequences and Finding Solutions for the Present: A Contribution for Deaf Studies and Sign Language Education, edited by Mark Zaurov and Klaus- B. Günther (Seedorf: Signum Verlag, 2009) [...]“, Holocaust and Genocide Studies 26, Nr. 2 (1. August 2012): 318–320, https://doi.org/10.1093/hgs/dcs045.
(5) Günther List, „Minorization and integration: Deaf History within the Scope of General History“. In Zaurov und Günther (Hg.) Overcoming the Past, S. 3.
(6) Mark Zaurov (2019): Die Erinnerung an die jüdische Gehörlosengemeinschaft und den Deaf Holokaust wiederfinden. Eine Frage der Menschenrechte entsprechend der UN-BRK, unter Abgrenzung von den Zwangssterilisationen und der ‚Aktion T4‘“. In Marion Schmidt & Anja Werner (Hg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und Schweiz. Transcript Verlag 2019, S. 263-292