Spurensuche: Richard Liebermann sel. A.
Ein jüdischer gehörloser Künstler und sein Werk
von Mark Zaurov (2002), veröffentlicht in Das Zeichen 59/02, S. 120-123.
35 Jahre nach seinem Tod im französischen Exil wurden im Edwin Scharff Museum in Neu-Ulm erstmals in der Bundesrepublik Bilder des gehörlosen jüdischen Malers Richard Liebermann ausgestellt. Die Ausstellung lief vom 9. November 2001 bis zum 17. Februar 2002.
Liebermanns gesamtes Werk, bestehend aus 300 Ölbildern, 180 Aquarellen und 530 Zeichnungen, meist Porträt- und Landschaftsbilder, wurde von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und versteigert. Dass man heute einen Überblick über das Gesamtwerk Liebermanns hat, ist darauf zurückzuführen, dass der Maler seit seiner Deportation stets eine Mappe mit Fotografien seiner Bilder mit sich trug. Aus diesem Grund steht die Liebermann-Ausstellung in Neu-Ulm unter dem Motto „Spurensuche“: Bilder und Zeitzeugen aus Frankreich, Israel und den USA mussten zunächst aufgespürt werden, um Werk und Leben des gehörlosen jüdischen Künstlers rekonstruieren zu können.
Richard Liebermann konvertierte 1923 in München zum katholischen Glauben. Ob Liebermann diesen Schritt nicht nur aus religiöser Überzeugung vollzog, sondern auch , um gesellschaftlicher Benachteiligung zu entkommen, konnte bisher nicht zweifelsfrei geklärt werden. Da sich Liebermann aber später in der katholischen Kirche engagierte, liegt die Vermutung nahe, dass er aus Überzeugung zum Christentum übertrat. Liebermann besuchte die „Königliche Taubstummenanstalt“ und studierte von 1921 bis 1930 an der Akademie für Bildende Künste in München. 1933 erhielt der Maler Ausstellungs- und Arbeitsverbot.
1936 verschaffte Hugo Rosenthal, zum damaligen Zeitpunkt Leiter des jüdischen Landschulheims Herrlingen, ihm dort eine Stelle als Zeichenlehrer; Liebermann bezog ein Zimmer im dortigen Martin-Buber-Haus. Das jüdische Landschulheim beherbergte damals Juden, die ihre Auswanderung nach Palästina vorbereiteten. Im Zuge der „Reichskristallnacht“ wurde Richard Liebermann in das KZ Dachau verschleppt. 1940 kam er in Frankreich zusammen mit französischen Juden in das Internierungslager Gurs, 1941 wurde er in das Spitallager Noé verlegt. 1941 verlor Liebermann den Großteil seiner Familie: Sein Vater verstarb im Lager Noé, seine Mutter und sein Bruder Hans wurden im Zuge des „Euthanasie-Programms“ ermordet. Bislang unbekannte Umstände führten 1943 zur Entlassung Liebermanns, seines Bruders Paul und seiner Schwester Gertrude (diese hat sich 1943 ebenfalls taufen lassen). Die drei Geschwister tauchten in einem Hospiz in St. Rambert sur Loire unter. Hier verbrachte Liebermann die letzten Kriegsjahre und lebte von gelegentlichen Aufträgen und einer kleinen Wiedergutmachungsrente in Höhe von 125.– DM. Ob er weitere Einkünfte hatte, ist nicht bekannt. 1966 verstarb der Künstler in St. Rambert sur Loire.
Liebermann war von Geburt an gehörlos. Sein Leben ist bezeichnend für das Schicksal jüdischer gehörloser Künstler während der Nazizeit – ähnlich erging es Rudolf Franz Hartogh, David Bloch und Hans Bloch: alle drei gehörten in doppelter Hinsicht einer kulturellen Minderheit an, zu der bis heute kaum Forschungsarbeiten vorliegen: Hartogh war Christ, aber jüdischer Herkunft; David Bloch war Jude, Hans Bloch war jüdischer Herkunft – und alle drei waren gehörlos.
Im Vorfeld der Ausstellungseröffnung hatte Gitta Fehringer (Sonderbeauftragte im Gehörlosenverband München und Umland e.V. für Deaf History und Gehörlosenkultur) ein Kommunikationsforum für Gehörlose unter dem Titel Richard Liebermann ein gehörloser Maler“ durchgeführt. Während der eigentlichen Ausstellungseröffnung war ihr jedoch eine eher bescheidene Aufgabe zugedacht worden, nämlich ein Grußwort an die Gäste zu richten. Ich fühlte mich als Gehörloser durch dieses Programm, insbesondere die musikalische Darbietung ‚nicht angesprochen‘. Statt dessen hätte ich mir einen größeren Rahmen für gehörlose „Deaf-Historiker“ gewünscht. Im weiteren Verlauf der Eröffnungsveranstaltung kam der Journalist Gernot Römer, der als erster über das Schicksal Liebermanns in seinem 1996 erschienenen Buch Jüdisch versippt1 berichtete, zu Wort. Marc Scheps, ehemaliger Leiter des Tel Aviv Museums und Direktor der Peter und Irene Ludwig Stiftung (Museum Ludwig) in Köln, verglich in seiner Rede das traurige Schicksal der jüdischen Maler Richard Liebermann und Max Liebermann während der Nazizeit. Trotz aller Gemeinsamkeiten beider Maler, die Scheps herausstellte, muss meines Erachtens jedoch festgestellt werden, dass sich beide in ihrer Haltung gegenüber dem Judentum grundsätzlich voneinander unterschieden: In Richard Liebermanns künstlerischem Werk finden sich keine „jüdischen Spuren“, wohl aber eine große Zahl christlicher Motive. So malte er z.B. um 1930 die „Fronleichnamsprozession“ in seiner Stadt. Max Liebermann hingegen wollte seine jüdische Identität nie aufgeben. In seinen Bildern kann man immer wieder jüdische Motive und Symbole finden, wie z.B. in seinem „Selbstbildnis mit Küchenstilleben“: Am Kopf eines auf dem Tisch liegenden Huhns ist ein so genannter Koscherzettel (ein rotes Siegel) zu sehen. Ein anderes Beispiel: Sein Bild „Der junge Jesus“zeigt ein armes jüdisches Kind in der Synagoge und löste seinerzeit einen Skandal aus.
Anders als Max Liebermann, der von sich sagte, dass er als Jude geboren sei und als Jude sterben werde, war Richard Liebermann überzeugter Katholik. Nach dem Zweiten Weltkrieg versah er das Amt eines Kirchendieners. In diesen Jahren gestaltete er zunehmend christliche Motive in seinen Bildern. So malte er z.B., in möglicher Anspielung auf seinen Lageraufenthalt, eine Christusfigur, die über dem Lager Noé schwebt. Traurige Bilanz für Richard Liebermann war, dass ihn der Übertritt zum christlichen Glauben nicht vor der Verfolgung bewahrte: Für die Nationalsozialisten blieb er ein Jude.
Die Ausstellung, bei der auch Korrespondenzen des Malers vorgestellt werden, zeigt Liebermanns künstlerisches Schaffen vor dem Hintergrund der damaligen politischen Entwicklung in Deutschland. Das Werk Liebermanns, so wird deutlich, ist untrennbar mit den politischen Ereignissen seiner Zeit verbunden. Der Lernphase, die durch den akademischen Einfluss geprägt ist, folgt eine Phase, in der seine Bilder in zunehmend hellen Farben gehalten sind. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten werden die Bilder dunkler. Und erst nach Kriegsende findet Liebermann wieder zu helleren Farben zurück, wodurch die Bilder optimistischer wirken. Die letzte Schaffensphase zeichnet sich durch experimentierfreudige Collagen aus. Den Besuchern der Neu-Ulmer Ausstellung erschließt sich Werk und Leben des Malers Richard Liebermann auf interessante Weise. Leider haben die Veranstalter aber kaum berücksichtigt, dass es sich bei Liebermann um einen gehörlosen Maler handelt. So gibt es auch keine adäquate Beschreibung der damaligen Politik und gesellschaftlichen Haltung gegenüber Gehörlosen. Es wäre beispielsweise interessant gewesen zu zeigen, wie das Verhältnis zwischen dem damaligen ‚Taubstummenlehrerverband‘ und ‚Taubstummenverbänden‘ aussah. Auch Informationen über den Stellenwert der Gebärdensprache im Unterricht wären von Interesse gewesen. Anhand solcher Informationen hätten die BesucherInnen ein Bild darüber bekommen, wie Gehörlose damals lebten.
Der Maler Richard Liebermann ist aus Deaf-historischer Perspektive bedeutend: Liebermann war als Gehörloser und als Jude in die Gesellschaft integriert und kann daher in zweierlei Hinsicht als assimiliert bezeichnet werden. Er hatte Kontakte zu Albert Einstein und Max Liebermann und somit Zugang zu der Welt der Etablierten und Hörenden, was für einen Gehörlosen nicht selbstverständlich ist. Andererseits war Liebermann nicht in Gehörlosenvereinen tätig und trat auch nicht für deren politische Belange ein. Als gehörloser Maler konnte sich Liebermann, ähnlich wie andere gehörlose jüdische Maler, durch seine Bilder entfalten, ohne auf die ‚hörende Welt‘ angewiesen zu sein. Aus den Lebensgeschichten von Richard Liebermann und Rudolf Franz Hartogh kann man sehen, dass Gehörlose damals als Maler eine akademische Ausbildung erlangen konnten. Gehörlose konnten sich über die visuelle Ebene als Maler im Wettbewerb mit Hörenden, in einer Welt der Hörenden, etablieren und Karriere machen.